FIRST YIDDISH LANGUAGE CONFERENCE
Gäste in Czernowitz*
Nathan Birnbaum
Nach der Sprachkonferenz. 

Es ist kein Zweifel, auch Städte haben Individualität, haben em ausgeprägtes seelisches Eigenbild. Auch wenn sie sich aus den veischiedenartigsten Elementen zusammensetzen, schwebt ein einigender Hauch über ihnen. Nationale Mannigfaltigkeit spaltet zwar einigermaßen das Bild, aber nur, wo die einzelnen natlonalen Gruppen sich stärker sondern und Gelegenheit haben, ihre Sonderart in Sonderkultur zu betätigen. Nebstbei gesagt, die Variante, die ich für die feinere, reichere, tiefere halte. Aber wo sie em buntes Gemengsel bilden, in welchem sie sich selbst nicht finden, ihre eigene Art nicht fassen, nicht in Bleibendes pressen können, da wird eben diese ungeordnete Mannigfaltigkeit ein Merkmal mehr der Stadtpersönlichkeit Sie erhält etwas Unpersonliches. 

Solche Städte sind von einer Art anspruchsloser Liebenswürdigkeit, rechenschaftsloser Heiterkeit und derber Anmut. In solchen Städten sammelt der Geist nicht gern, sondern zerstreut sich lieber. Da werden keine Kulturschöpfungen geschichtet, sondern höchsten spielend verbraucht. Da gibt es keine Ewigkeit, sondern nur Zeit und eigentlich auch die nicht, sondern bloß Tage und Nächte. 

Eine solche Stadt ist Czernowitz. Und darnach sind auch die Juden von Czernowitz: Liebenswürdig lustig, dem Politisieren zugetan, aber gegenüber den Hintergründen des Lebens gleichgiltig. Fortschrittlich, aber nicht fortgeschritten, noch weniger vorgeschritten, am allerwenigsten vorschreitend. Temperament ohne Bewegung. Kurz: Ausgezeichnetes Material, aber nirgends hineinverbaut, unnötig an der Sonne trockend. 

Und nun denke man sich unter dieses freundliche, gutmütige Völkchen, das alles andere eher liebt, als sich von fremden Stürmen fortwirbeln zu lassen, plötzlich eine Schar von Eindringlingen gebracht, die solch fremden Sturm darstellen. Wie desorientierend mußte schon die eigentümlich cholerisch-melancholische Art geistiger Schöpferpersöonlichkeiten wirken. Dazu die neuartige jiddische Sprachforderung, mit der sie in dieses stille Teil eines jüdischen Deutschtums von der aller anspruchslosesten und allervoraussetzungslosesten Sorte drangen. Und schließlich, daß sie aus den Zentren eines neuen, stark pulsierenden, schöpferischen jüdischen Lebens kamen und schon dadurch allein jenseits aller Maße standen, die die Einheimischen an sie anlegen konnten. 

Gewiß haben auch anderseits die Gäste im ersten Augenblicke nicht gewußt, was sie aus den ihnen fremdartigen Menschen machen sollen. Aber ich habe Grund anzunehmen, daß sie sich vermöge ihrer guten Witterung bald orientierten und wohl fühlten. Vermöge der dem Genius eigenen Gewohnheit, volle Möglichkeiten den Wirklichkeiten, gesunde Keime den Früchten gleich zu werten, fanden sie Gefallen an dem Material, daß sich ihnen gegenüber so seelenlos zu verhalten schien. Und die Czernowitzer Judenheit kann sich glücklich schätzen, daß sie die Aufmerksamkeit dieser geistigen Tatenmenschen auf sich lenkte. Es wird ihr nichts helfen. Ob sie will oder nicht, sie wird in die große jüdische Welt mit embezogen werden. Ihrer Vereinsamung und Verwaistheit naht eridlich das Ende. 

Das ist mit eine der schönen Perspektiven der Sprachkonferenz und damit allein hat sie sich schon em großes Verdienst erworben. 

Ich persönlich verdanke ihr yor allem die Bekanntschaft und den vertrauten Umgang mit hervorragenden Menschen, die fördernd und ermutigend auf mich wirkten und meinem lauernden Beobachungseifer die schönsten Aufgaben steliten. Es ist mir ein Vergnügen, die Eindrücke, die ich von ihren Persönlichkeiten empfing, recht und schlecht, in meine Bildart, in ein paar Worte zu bannen. Sollten sie ausreichen, um auch anderen einen, wenn auch nur andeutungsweisen Begriff von dem Geschilderten beizubringen, so wird es mich doppelt freuen. 

Zu Perez stand ich schon früher in einem besonderen Verhältnisse Ich habe viele seiner Sachen ins Deutsche übersetzt, mit Liebe übersetzt, wie ich betonen möchte. Ich weiß nicht, wieso es kam, ich hatte gefürchtet, daß er mich enttäuschen werde. Irgendwie hatte sich die Vorstellung, als müßte er anmaßend sein, meiner bemächtigt, und ich finde Anmaßung so schmählich, so klein, so unwürdig eines Großen. Wie glücklich bin ich, daß ich anders und angenehm enttäuscht wurde. Er hält wohl viel von sich und noch etwas mehr auf Distanz, aber dies geht nirgends über die Grenzlinie des Harmonischen heraus. Ich fand ihn lieb, wohlwollend, gut, Seele von einem Menschen. Und naiv, wie nur ein Dichter sein kann. Und raffiniert durchschauend, wie wieder nur ein Dichter sein kann. Äußerlich wenig jüdisch, mehr Pole, namentlich durch den Schnauzbart, innerlich ein ganzer Jude: Nicht nur mit seinem Optimismus und seiner Ausdauer, auch mit dem elgentümlichen lyrischen Pathos des Juden, das nicht nur in seinen Dichtungen hervortritt, sondern noch kräftiger, wenn er diese selbst vorliest, und auch dann, wenn er spricht. Er ist ein guter Redner. Schon das Vibrieren seiner Stimme, das übrigens auch zum erwähnten Pathos gehört, wirkt. Dann das Kaskadenartige des Satzbaues. Weniger jüdisch, als rußländischjüdisch, vorjüngster Marke ist sein politischer Radikalismus: Schrecklich einfach und kindlich, und im vollen Gegensatz zu seiner freien Natur, die sonst gegen alles Schema revoltiert. Das judentum liebt er über alle Maßen und er ist sozusagen auf der ständigen Suche nach junger "Judischkeit". So fand er ja auch die Schönheit im Chassidismus. Von einem Besuche in Sadagora kam er wie verzückt zurück. Das jüdische "Adelsschloß" hatte es ihm und den anderen angetan, den "radikalen" Dichtern. 

Ein Elementarereignis ist Schalom Asch. Ein Sturm Wenn er dahinzufegen beginnt, fühlt man sich versucht, einzuknicken. Spricht manchmal erzschlecht, kommt aus dem Stottern nicht heraus. Manchmal aber, sowie die Erleuchtung über ihn kommt, mit der Wucht des Weltgerichts. Dann bekommt seine hohe, starke, Gestalt, die sonst etwas linkisch wirkt, Sinn. Und die Tränen, die in seinen Augen erschimmern, adeln die Unadeligsten. Ungeheuer ist seine Liebe zur jüdischen und speziell zur biblischen Vergangenheit, darum ist seine jüdische Übersetzung des Buches Ruth, die er in Czernowitz zum erstenmal der Öffentlichkeit vorlegte, so gewaltig groß und ihr Eindruck so überwältigend geworden. Asch’ Art ist unvermittelt. Soeben war er noch ein großes tändelndes Kind - ich mußte immer an ein kluges, gutes Elefantenbaby denken - und einen Augenblick später stürzt sein Genius brausend hervor und die Seelen neigen sich ihm, wie die Bäume dem Gewittersturme. 

Mit Perez und Asch war aus Warschau auch H. D. Nomberg gekommen. Du siehst ihm den bebend zarten Lyriker nicht an. Hinter einer unscheinbaren Gestalt und einer Überschlichtheit der Geberde feines dichterisches Empfinden und enthusiastische Hingebung. Und dabei ein Humor, wie ihn eben nur noch der "Osten" im Judentum zeitigt. Äußerst streitbar in der Debatte, im Grunde aber der friedlichste und bescheidenste Mensch. Ein Ideal an Selbstlosigkeit - bis zur Bohême. Er selbst rechnet sich zu ihr. Nicht mit Unrecht und nicht ohne Koketterie. Ich halte ihn für einen der Glücklichsten unter den Schaffenden. In lächelnder Erinnerung bleibt mir, wie er sich einmal abseits setzte, um rasch einen Artikel zu erledigen. Es war putzig zu schauen, wie er sich förmlich in seine Arbeit verkroch. Ein wohlwollend bißiger Freund verglich ihn mit einern Hündchen, das einen Knochen erwischt hat und diesen nun ruhig und glückselig in einem Winkelchen verzehrt. 

Ein Bohêmien ist auch Reisen, nur weniger freiwillig und weniger glücklich, wie mir scheint. Auch em Mann, der nicht an sich denkt, dem’s aber weniger gut bekommt. Er muß sein Herzblut geben. Der Zorn, der Eifer, die manchmal in seinen Gedichten und seinen sozialen Skizzen widerklingen, beherrschen ihn auch im öffentlichen Auftreten. So setzte er die Konferenz durch die Folgerichtigkeit in Erstaunen, mit der er den kleinsten Anlaß herausfand, urn seinen extrernen Standpunkt in der Frage des Jiddisch durch Rede oder Zwischenruf hervorzukehren. Viele, sehr viele haben es ihm verübelt, selbst solche, die seiner Meinung sind. Im Grunde mit Unrecht. Er war vielleicht der erste, der aus Rußland kommend, em neuartiges Interesse an jiddischer Sprache und Literatur in Galizien begründete, uud es ist kein Wunder, wenn er nervös wird, sobald er glaubt, daß seinen Lieblingen eine Gefahr droht. 

Und nun Dr. Chaim Schitlowsky (den ich, ebenso wie Reisen, schon früher kannte). Er ist der einzige von den hier erwähnten, der nicht zu der Dichtergilde gehört. Und doch möchte ich an ihm in allererster Linie die Anmut hervorheben. Ich bitte nicht zu staunen. Ich weiß, er ist ein Denker von prächtiger Sehschärfe; ich weiß, er ist ein Volkserzieher, wie ihn kein Volk besser haben könnte. Ich weiß, ich weiß. Aber ich lasse mir nicht ausreden, daß sein Denken und Erziehen erst durch die Anmut, durch die sichere und schöne Eleganz seiner Rede und seines Auftretens, zur vollen Wirkung kommt. Man hat ihn als Vorsitzenden bewundert. Ich führe auch diese Eignung auf die Anmut zurück. Sie ist es, mit der er schon seit Jahren die ostjüdische Intelligenz in Arnerika, und wohin er kommt, für das Jiddische gewinnt. Ohne von der Sache zu reden, nur durch die Art, wie er jiddisch spricht, wie er einfach mit seiner Person beweist, daß man mit Jiddisch ebenso auf das Katheder steigen und in den Salon kommen kann wie in die Kneipe und in die Volksversammlung. Er bezaubert und die Bezauberung ist nachhaltig. Man vergißt ihn nicht, vergißt die gedrungene Gestalt nicht mit dem hochzivilisierten und feinkultivierten Gesichte, vergißt nicht die blauen Denker- und Frageraugen und vergißt nicht sein schönes, durchdachtes urd doch beschwingtes, stilles und doch feuriges Apostelwort… Und so wird schon seiner allein wegen die Konferenz nicht vergessen werden… 

*) Zuerst in "Jüdische Zeitung" (September 1908).

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